XVIII
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Fischer blickte zur Tür hin, und als er sah, daß sie verschlossen war, bückte er sich und öffnete den Verschluß des Nachttisches; er zog die Pantoffeln heraus, ein Paar schmutziger Strümpfe, die zusammengeknüllt waren, und nun, mit dem Gesicht nahe an der Erde, sah er, daß die Blutspuren noch nicht ganz weggewischt waren; eine dünne dunkle Kruste klebte noch am Boden. Er seufzte, blickte zu den Kerzen auf und fühlte etwas wie Scham, als er nun das Nachtgeschirr beiseite schob, während er sich mühsam keuchend auf die Bettkante stützte. Alles, was er je über Erbschaftsprozesse gehört hatte, fiel ihm ein – der Schweiß brach ihm aus: auch in der Nachtkommode war der Zettel nicht. Er zuckte zusammen, als der Verschluß knackte, und während er sich auf den Boden stützte, entdeckte er unter dem Bett im Halbdunkel einen Koffer – er legte sich flach auf den Boden, versuchte den Griff zu erreichen, aber der Koffer war weit nach hinten geschoben, es nützte nichts, er mußte, er mußte seinen Kopf beugen, ihn unters Bett schieben und sich mit den Händen vortasten; Ekel packte ihn, und nun lag er auf dem Bauch im Dreck, in dieser widerwärtigen dicken Staubschicht, und als er sich duckte, um noch ein Stück voranzukriechen, berührte seine Nase den Staub, Flusen drangen ihm in den Mund, und ein hef- tiger Husten hinderte ihn, nun endlich den Griff des Koffers zu packen. Er hielt den Atem an, unterdrückte den Husten, schnappte den ledernen Griff; einen Augenblick war es still, und in dieser Stille hörte er, daß die Tür geöffnet und wieder ge- schlossen wurde; er blieb liegen, hörte einen einzigen Schritt, dann war wieder Stille, und er dachte daran, daß nun irgend jemand dort stand, der seine Beine betrachtete, seine Schuhe, die lächerliche untere Hälfte eines männlichen, unter dem Bett lie- genden Körpers. Er fluchte stumm in sich hinein, und dieses heftige und häßliche innere Stammeln brachte ihm Erleichte-
rung. Er dachte Worte, die er noch nie ausgesprochen hatte,
deren Existenz er fast nur geahnt hatte – »Scheiße – Huren-
dreck…« es war wie eine Befreiung; er beschloß, herauszukrie- chen. Er schob sich langsam mit einer Hand rückwärts, hielt mit der anderen den Koffergriff und pustete heftig den gestauten Atem heraus – eine Staubwolke umwirbelte ihn, Dreck drang in Nase und Mund, er mußte niesen; sein Kragen verhakte sich an einem Drahtstück der Matratze, und er hielt wieder inne, stam- melte unsinnige widerwärtige Flüche in sich hinein und spürte in einer Mischung von Ekel und Lust, daß Schweiß und Schmutz sich vermengten; er ruckte heftig, spürte, wie der Kragen riß, und wand sich langsam so heraus, daß er der Gestalt den Rücken wandte. Er warf den Koffer aufs Bett…
»Was wollen Sie«, murmelte er nach rückwärts, während er sich das Gesicht abtupfte und den Staub von seinen Kleidern schlug.
Er konnte fast nichts sehen, sein Herz schlug heftig, und nur langsam beruhigte sich die erregte rotierende Bildfläche vor seinen Augen: das Kruzifix auf dem Nachttisch, die rötliche Wand…
Er fluchte innerlich weiter, ohne es zu wissen und ohne zu wissen worauf: ein plötzlicher, heftiger Drang, dem nach- zugeben ihm Erleichterung verschaffte und ihn mit einer seltsam scharfen, fast tödlichen Heiterkeit erfüllte, diese Lust, widerliche Wörter zu bilden, abscheuliche Vokabeln einer unbekannten Welt, die sich ihm mühelos erschloß, herunterzuleiern – sie in sich hineinzudenken; es schien, als bezahle er damit seinen Los- kauf von der Scham: alles war ihm gleichgültig – – nur dieser Fetzen…
Er setzte sich kaltblütig aufs Bett, wischte sein Gesicht sauber, während der erregte Sektor vor seinen Augen ganz ruhig wurde und sich allmählich das unbewegte Bild eines blassen jungen
Mannes abzeichnete, der eine Soldatenkappe in der Hand hielt
und ihn feindselig musterte…
»Nun, was wollen Sie«, rief er… »suchen Sie jemand?«
Er ließ gleichzeitig die Schlösser aufschnappen, griff in die Taschen im Kofferdeckel und sah den jungen Mann neugierig
an…
»Frau Gompertz… ich will zu Frau Gompertz, Zimmer 16 – man sagte mir…«
Fischers Neugierde war erwacht, als er zwischen Damenwä- sche einige Bücher entdeckte.
»Frau Gompertz ist tot…«, warf er ruhig hin. Plötzlich fiel ihm
wieder ein, wie wertvoll dieser Fetzen Papier für ihren Vater und ihre Geschwister sein konnte, unabsehbar – sein Herz schlug heftiger, heiß und erstickend war die Erregung in seinem Hals; es schien ihm, als werde er in diesem Koffer nichts finden, und er wühlte verzweifelt zwischen Wäschestücken herum, angelte ein Gebetbuch heraus, dessen Seiten er hastig durch die Finger gleiten ließ. Er blickte erst auf, als der Schatten des jungen Mannes über ihn fiel – er hielt inne und blickte das blasse Ge- sicht prüfend an.
»Frau Gompertz ist tot, was wollen Sie?« rief er, als der junge Mann näher trat.
»Sie suchen an der falschen Stelle«, sagte Hans. Er ging lang- sam zum Nachttisch, hob das Kruzifix auf und langte unter dem Sockel den schmalen weißen Zettel heraus. »Zu Hause hatte sie
es an der gleichen Stelle«, sagte er.
Fischer fühlte, daß er die Nerven verlor; er mußte die Lippen aufeinander pressen, um das Knirschen seiner Zähne zu unter- binden, aber hinter den geschlossenen Lippen spürte er dieses wilde Knacken seines Gebisses. Er sah, daß der Fremde den Zettel in die Tasche steckte, und öffnete mühsam den Mund:
»Sie wissen…«, stammelte er… »Sie wollen… Sie kennen das Dokument.«
»Ich kenne es, Herr Doktor, ich habe es ihr selbst gebracht…«
»Sie? Sagen Sie, Sie… kennen wir uns nicht?«
»Wir kennen uns«, sagte Hans lächelnd und wandte sich zur Tür.
»Bleiben Sie!« rief Fischer. Hans blieb stehen.
Fischer schloß den Mund, um den Krampf in sich hineinzu-
würgen, dieses Zucken, das ihn veranlaßte, gegen seinen Willen
mit den Zähnen zu knirschen: während dieser aufgezwungenen
Stummheit zischte er sich innerlich die Flüche vor, die er neu entdeckt hatte – er kaute mit Genuß diese Ausdrücke, die in ihm nachdrängten, diese Literatur der Verzweiflung, und plötzlich stürzte er sich auf den Mann – er las die vollkommene Überra- schung in dem entsetzten Gesicht und nützte die erste Sekunde, ihn gegen die Wand zu drücken, ihm die Arme abzuklemmen, während die freie Hand zielbewußt in die linke Tasche des Fremden drang – er lachte laut, als er den Fetzen in seiner Hand fühlte, und rannte hinters Bett; dort wartete er kampfbereit, die Hände wie zum Boxen erhoben, aber die Gestalt an der Wand rührte sich nicht.
»Für Sie ist es wertlos – wollen Sie Geld?« rief Fischer. »Üb- rigens«, fügte er leiser hinzu, »glaube ich nicht, daß es echt ist.«
Er bekam keine Antwort; der Mann, dessen Namen er nicht kannte, dessen Gesicht er einmal flüchtig gesehen zu haben glaubte, löste sich langsam von der Wand und ging zur Tür…
Hans stockte, als er die große Vorhalle erreichte, die voll Licht
war: links stand der lächelnde Engel, der ihn damals in der Nacht begrüßt hatte. Hans blieb stehen: die Figur schien ihm zu winken oder ihm von der Seite zuzulächeln, und er wandte sich ihr langsam zu: aber die starren Augen blickten an ihm vorbei, und die vergoldete Lilie rührte sich nicht, nur das Lächeln schien an ihn gewandt, und er lächelte leise zurück; jetzt erst, wo die Figur im vollen Licht stand, sah er, daß das Lächeln des Engels ein schmerzliches Lächeln war.
Er wandte sich erst um, als er Reginas Stimme hörte, und er erschrak, als er die Freude in ihren Augen sah.
»Nun«, fragte sie, »was ist?«
»Sie ist tot«, sagte er.
»Tot?« Er nickte.
»Es macht nichts«, sagte sie, »wir werden andere Zeugen fin- den.«
Er nahm ihren Arm und ging mit ihr die Treppe hinab.